Bürgergesellschaft, Zivilgesellschaft
Der Begriff der Bürger- oder Zivilgesellschaft ist heute in aller Munde und daher auch entsprechend unscharf in seiner Bedeutung. Ursprünglich stammt er vom englischen Sozialphilosophen John Locke (1632-1704). Bei ihm meinte der Begriff der "civil society" vor allem eine Garantie des Rechts auf Freiheit und individuelles Eigentum. Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, diese Rechte zu schützen, sondern muss sich in seiner Machtausübung gegenüber den Untertanen selbst begrenzen. Darin sah Locke einen verfassungspolitischen Weg, den gesellschaftlichen Frieden zu stabilisieren, der durch die Religionskriege seiner Zeit dauernd gefährdet war.
Ein weiterer wichtiger Philosoph, der die Bedeutung einer vom Staat unabhängigen Bürgergesellschaft erkannte, war Alexis de Tocqueville (1805-1859). In seinen Studien zur jungen Demokratie in Amerika stellt er fest, dass das Fundament des lebendigen wirtschaftlichen und politischen Treibens des ersten modernen demokratischen Staates auf einer Vielzahl von freien Vereinigungen, Organisationen und Zusammenschlüssen beruhe, die dem demokratischen Staatswesen einen deutlichen Vorsprung vor der auch am besten regierten Monarchie verschaffe, weil sich alle Glieder aktiv an der Gestaltung des Gemeinwesens beteiligen. Damit hat Tocqueville das Fundament einer auf eigenständigen Institutionen (Vereinen usw.) begründeten Theorie der Zivilgesellschaft gelegt, die eine eigene Form demokratischer Öffentlichkeit erzeugt. Viele wichtige aktuelle Theoretiker der Bürgergesellschaft, von Habermas über Dahrendorf bis zu den Kommunitaristen (→Kommunitarismus), greifen auf Tocquevilles Lehren zurück. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der Begriff Bürgergesellschaft durch die politischen Umbrüche in den Staaten des Warschauer Paktes wieder aktualisiert. Er wurde zum Sammelpunkt oppositioneller Bewegungen, die sich aus dem Joch des Staatssozialismus befreien wollten. Ihre Forderung: Die Gesellschaft benötige einen eigenen Spielraum politischer Entfaltung, der mit der Entwicklung einer vom Staat unabhängigen Bürgergesellschaft geschaffen werden müsse.
Heute ist der Begriff der Bürgergesellschaft aus vielen Gründen wichtig geworden. Hierzu zählt unter anderem die Krise des Staates und seiner Steuerungsinstrumente, aber auch ein gewachsenes Selbstbewusstsein der Bürger, mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu fordern.